Ducati Multistrada V4: Anders, besser
Braucht man eine Reiseenduro mit 170 PS? Nein. Aber es macht Spass. Ducati lässt mit der vierten Generation der Multistrada charakteristische Stilelemente verschwinden: Vier statt zwei Zylinder, der Gitterrohrrahmen ist Geschichte, und – Himmel, hilf! – sogar die Desmodromik (bitte googeln!) muss dran glauben. Die Gemeinde jammert: Das ist keine richtige Ducati! Es ist kurios: Der Mensch giert ständig nach Neuem – verabscheut aber Veränderungen. Anderseits: Im «Alpen-Masters 2021»-Ranking der Zeitschrift «Motorrad» entthronte die Multistrada V4 S den Platzhirsch aus Bayern. Eine Sensation.
Die «Multi» ist eine elegante Schönheit. Ich fahre die S-Version mit Speichenfelgen. Ihre Front mit Doppelscheinwerfer und Windschild wirkt sportlich und angriffig. Draufsitzen, passt. Der Fahrersitz ist höhenverstellbar. Das blendfreie 6,5"-Display lenkt den Blick aufs Wesentliche: Drehzahl, Tempo und gewählter Gang. Das Navigieren durch die Menus ist unkompliziert und erledigt der linke Daumen per Joystick. Häufig genutzte Funktionen wähle ich direkt per Knopfdruck. Praktisch.
Als Fahrmodi sind «Urban», «Sport», «Enduro» und «Touring» im Angebot. Regenmodus? Fehlanzeige. Was mir aber nicht einmal im strömenden Regen negativ auffällt. Individuelle Settings sind Einstellungssache. Im Touring- und Sport-Modus galoppieren 170 italienische Pferdchen. Im Enduro- und Urban-Modus «nur» 115 Ponys. Mehr als genug.
Radartechnologie für mehr Sicherheit
Die V4 spielt nicht nur preislich in der Topliga. Elektronische Assistenzsysteme gehören hier dazu, zum Beispiel Kurven-ABS. Die schräglagenabhängige Traktionskontrolle lässt nur so viel Power aufs Hinterrad, wie in Vortrieb und Grip umgesetzt werden kann: Damit keine ungewollten Drifts die Besatzung in Schockstarre versetzen. Die clevere Elektronik macht die Leistung für Amateure beherrschbar – im Rahmen der Gesetze der Physik.
Doch ein Extra lässt die Konkurrenz alt aussehen: Radartechnologie. Gelbe Leuchtelemente in den Rückspiegeln warnen vor «unsichtbaren» Fahrzeugen. Grossartig! Die Multistrada V4 S hat hier ein Alleinstellungsmerkmal. Allein das wäre ein Kaufgrund. Der Abstandstempomat bremst und beschleunigt. Klingt für Töfffahrer unheimlich, funktioniert aber bestens. Das schont im Kolonnenverkehr oder auf der Autobahn Handgelenk und Nerven. Brauche ich nicht, doch hätte ich gerne.
170 PS sind eine Ansage. Keine andere Grossenduro ist stärker. Die Wheelie-Kontrolle verhindert, dass sich das Vorderrad beim beherzten Gasgeben zu weit vom Boden der Tatsachen entfernt. Das Rad in der Luft wirkt zwar spektakulär, beeinträchtigt aber Lenk- und Bremsvermögen. Notabene: In der Schweiz kann «s Männli mache» als «Nichtbeherrschung des Fahrzeugs» gebüsst werden.
Mein Smartphone verschwindet in einem Fach im Tank mit zwei USB-Buchsen. Praktisch. Auf Knopfdruck erwacht die Elektronik. Alles blinkt und signalisiert Bereitschaft. Der Notausschalter neben dem Gasgriff verdeckt den Startknopf und will erst hochgeschoben werden. Hat was von Entsichern. Cool. Ein Druck – und das V4-Triebwerk kommt in Wallung. Hörbar. Leise, aber hörbar. Eine Krawallschachtel ist sie nicht. Akustische Effekthascherei hat sie nicht nötig. Gut so.
Die Herrscherin der Strassen
Das Handling ist geschmeidig. In Ortschaften bin ich im Flüstermodus unterwegs. Egal, ob Schotter, Landstrasse oder Autobahn, ob enges Kurvengeschlängel oder weite Kehren: Die Multi verströmt Souveränität und hängt willig am Gas. Ansatzloses Überholen ist ein Kinderspiel. Sie hat Leistung im Überfluss. Etwas Selbstdisziplin schadet daher nicht. Wo Strasse, Tempolimit oder Fahrer schon lange die Grenze setzen, weiss ich, es ginge immer noch mehr. Einem Ausflug auf die Rennstrecke wäre die Schöne aus Bologna vermutlich nicht abgeneigt.
Unbeeindruckt und spurtreu zieht sie ihre Bahn, sogar bei starken Böen. Das mit einer Hand verstellbare Windschild schützt vor Wind und Witterung. Und hätte ich vor dem grossen Regen schon gewusst, dass die Heizung für den Sitz der Sozia von eben dieser selbst aktiviert werden kann, wäre die Fahrt noch harmonischer verlaufen.
Für mich ist die Multistrada V4 S anders. Besser. Der Motor ist ein Traum. Das Fahrgefühl ein Gedicht. Ihre Manieren sind über jeden Zweifel erhaben. Die Technik überlegen. Pilot und Passagier reisen komfortabel. Der Spassfaktor ist enorm. Ein Kritikpunkt: Sie ist eine Trinkerin. Ihr Spritdurst ist unzeitgemäss. Anderseits senken extrem lange Wartungsintervalle Servicekosten. Sie weckt Emotionen, ganz Italienerin. Doch sie ist keine Diva, sondern eine Gefährtin, mit der man Pferde stehlen kann.
FAKTEN: Multistrada V4 (5"-Display, Bosch-Kurven-ABS, Traction Control, Wheelie Control) und Multistrada V4 S (6,5"-Display, Ducati Connect, Quickshifter, Berganfahrhilfe, semiaktives Fahrwerk, Keyless, Kurvenlicht, optional: Speichenfelgen, Griff- und Sitzheizung, Abstandstempomat, Totwinkelkontrolle, Seitenkoffer). Hubraum 1158 cm3 Leistung 112kW, 170 PS Drehmoment 125 Nm Leergewicht (trocken) 215 kg (V4 S: 218 kg, V4 S Sport: 217 kg) Kraftstoffverbrauch ca. 6,5 l (Herstellerangabe) Antrieb Kette Wartungsintervall Hauptservice 60 000 km, kleiner Service 15 000 km. Unverbindliche Preisempfehlungen Schweiz: Multistrada V4: ab 19 990 Fr., Multistrada V4 S: je nach Ausstattung 24 090 Fr. bis 27 490 Fr., Multistrada V4 S Sport 24 490 Fr. bis 27 690 Fr.
Besten Dank an Daniel Meier von Ducati Zürich-Oberland für die Überlassung der Ducati V4S
(Dieser Text erschien in der Handelszeitung Nr. 39 am 23.09.2021)