Motorradfahren ist Frauensache
Frauen und Motorräder: Die Klischees dazu sind zahllos. Das Englische ist da fortschrittlich: «Motorcyclists» ist geschlechtsneutral. Das ist die Zukunft, auch in der Schweiz: Unter fast jedem zweiten Helm steckt eine Frau. Und auch mir ist meine Sozia abhandengekommen – und das ist auch gut so. Zeit, mit den Klischees aufzuräumen!
Ich bin ein Kurvenfetischist. Okay, jetzt ist es raus. Bevor Sie mir die rote Sexismus-Karte zeigen: Mir geht es nicht um körperliche Aspekte, sondern um die Krümmung der Strasse. Und nicht ums Wo, sondern ums Wie und Womit. Genauer gesagt: Ich interessiere mich weniger dafür, wie schnell jemand Motorrad fährt, sondern wie schön. Leuten, die schön fahren, schaue ich gern zu. Und das zeigt sich – nicht nur, aber deutlich – am Fahrstil in der Kurve. Seit bald einer Stunde fahre ich jetzt schon hinter einem Motorrad her. Die Strasse schlängelt sich einem Bächlein entlang durch ein Tal. Die Kurven folgen seinem Lauf, sind mal enger, mal weiter. Genau, was der Arzt verschrieben hat. Dann windet sich die Strasse durch ein Waldstück und schraubt sich hügelan und hügelab. Das Motorrad vor mir fährt «eine gute Linie», wie wir Motorradfahrer sagen.
Eine gute Linie hat nichts mit der sogenannten Ideallinie auf der Rennstrecke zu tun – im Gegenteil: Statt Kurven zu schneiden, geht es darum, auf der eigenen Spur zu bleiben. Das muss man können. Viele können es nicht. Viele können nur schnell, aber nicht gut. Doch ich schweife ab. Zurück zum Motorrad vor mir. Es fährt die Kurven nicht nur schön, sondern flüssig. Flüssig ist kein Synonym von schnell, sondern bedeutet flott, ohne Stocken, zügig. Eine Kunst, die erlernbar ist und mit Übung und Können zu tun hat. Verzeihen Sie mir die Schwärmerei, aber ich habe es eingangs ja schon erwähnt: Ich bin ein Kurvenfetischist.
Aber darum geht es heute nicht. Sondern darum, dass ich diesem Motorrad hinterherfahre. Immer noch. Denn vor mir fährt nicht irgendwer, sondern meine Partnerin Claudia.
Zehn Jahre lang war sie «die beste Sozia von allen». Jetzt fährt sie selber. Zehn Jahre entdeckten wir auf zwei Rädern die Schweiz und ihre Nachbarländer, erfreuten uns an einer kurzen Abendrunde oder einer Tagestour durch den Jura oder die Alpen. Wir besuchten Motorradtreffen. Wir fuhren zu zweit auf einem Töff in die Ferien – mit Gepäck. Vor ein paar Jahren beschloss sie, selber zu fahren. Sie kaufte sich eine kleine Reise-Enduro als Occasion, eine Honda NX 250 (Jahrgang 1991), Spitzname «Nixe» (falls Sie jetzt denken, «typisch Frau, Motorrädern Namen zu geben»: Meine Maschinen heissen Lady, Herta, Tina, Betty und Dörte, doch das nur nebenbei), besorgte sich einen Lernfahrausweis und absolvierte ein gutes Jahr später erfolgreich die Töffprüfung.
KLISCHEE: FRAUEN FAHREN NUR ALS SOZIA MIT
Jetzt fährt meine Partnerin nur bei mir auf dem Soziussitz mit, wenn ich für einen Fahrbericht zu neuen Bikes den «Soziatest» brauche. Mittlerweile hat sie schon über 80000 Kilometer auf dem Töff zurückgelegt, zwischen 15 000 und 20 000 fährt sie pro Jahr – damit liegt sie weit über dem Schweizer Durchschnitt: Der beträgt nur rund 1800 Kilometer.
Warum sie sich entschieden hat, selber zu fahren?Weil sie unabhängig davon sein wollte, wann ich Zeit habe. Sie sagt: «Das Schönste am Motorradfahren ist, dass ich unabhängig bin, die Glücksgefühle und dass ich denke, ich könnte jetzt ewig so weiterfahren – es ist wie Meditation, ich befinde mich im Hier und Jetzt. Und ich komme überall hin und entdecke wunderschöne Orte.»
KLISCHEE: MOTORRADFAHREN IST MÄNNERSACHE
Über vier Millionen Menschen in der Schweiz dürfen Motorrad fahren, also rund die Hälfte der Bevölkerung. Die andere Hälfte hält Motorradfahren überwiegend für Männersache. Ein Klischee, fernab der Realität: 44 Prozent aller Motorradfahrer in der Schweiz sind weiblich. Die Motorradcommunity ist Vorbild punkto Geschlechtergerechtigkeit.
Honda-Händlerin Hanni Urech bestätigt: Als sie und ihr Mann Max vor 35 Jahren ihr Geschäft gründeten, waren Frauen auf Töffs noch selten, und wenn, meist als Sozia unterwegs. Heute ist über ein Drittel ihrer Kundschaft weiblich. Honda lag im Jahr 2022 auf Platz zwei der Verkaufsstatistik. Hinter Yamaha und vor BMW.
Peter Studer, Gründer von have-fun Fahrtrainings, hat Schräglagentrainings für Motorräder in der Schweiz etabliert. Seine Gruppen sind gemischt, rund ein Drittel seiner Klientel weiblich. Einmal im Jahr bietet er ein Training auf der Rennstrecke Anneau du Rhin nur für Frauen an. Letztes Jahr nahmen 35 Fahrerinnen teil, die von Instruktorinnen betreut wurden. Die Schweizer Hostettler Group offeriert seit einigen Jahren «Girls on Bikes»-Fahrsicherheitskurse. Der Frauenanteil liegt bei zwanzig Prozent.
Ducati verkauft oft sogenannte Naked Bikes an die weibliche Kundschaft, die Modelle Monster und Scrambler sind beliebt.Von speziellen Eventangeboten nur für Frauen hält die Motorradschmiede aus Bologna jedoch nichts: «Wir machen keine geschlechtsspezifischen Angebote – mitunter auch, weil das Fahrvermögen in keiner Weise vom Geschlecht abhängt». Guter Punkt.
Sogar bei Harley-Davidson weht mittlerweile einWind of Change:Während der letzten drei Jahre kletterte der Frauenanteil auf über zehn Prozent – Tendenz weiter steigend.
So unterschiedlich wie die Motorräder sind dieVorlieben. Die Frauen heute fahren auf der Strasse, der Rennstrecke, im Gelände – kurz: überall dort, wo auch die Männer unterwegs sind.
KLISCHEE: FRAUEN GEHT ES NUR UMS AUFFALLEN
Die Zeiten, in denen sich Frauen mit Fransenlederjacke, Stiefeletten und Ziernieten zufriedengeben mussten, sind vorbei. Optik und Stil sind wichtig – genau wie bei den Männern. Doch Sicherheit spielt eine ebenso grosse Rolle. Und Taschen, die nicht nur der Optik, sondern praktischen Zwecken dienen, stehen auf dem Wunschzettel vieler Frauen.
KLISCHEE: FRAUEN FAHREN LANGSAM
Gret Stirnimann fährt klassische Mo- torräder, Veteranen ohne elektrischen Startknopf und andere Helferchen wie ABS oder gar Traktionskontrolle.Rennen fahren ist für sie das Schönste. Sie fuhr in den vergangenen zehn Jahren einige Male auf Podeste. Sie besitzt eine BSA A7 («die A»), Jahrgang 1956, und eine Triumph T110, Jahrgang 1954, die in Amerika als Flattracker gefahren wurde und auf den Namen «Curt» hört – der Name des amerikanischen Fahrers stand auf dem Tank. «Am schönsten ist es, an einem Rennen zu fahren.Wunderbar sind Rundstrecken. Wir sind öfters den Circuit de Chambley in Metz gefahren. Der ist eher eng, mit einer kurzen Geraden, was perfekt für unsere alten Töffs ist. Da hat mir das Motorradfahren immer am besten gefallen. Keine unkonzentrierten Verkehrsteilnehmer, kein Tempolimit, keine Kreisel, Ampeln etc.» Vom Schrauben versteht sie einiges, hat früher alles sel- ber machen wollen. Inzwischen lässt ihr der Job leider zu wenig Zeit.
KLISCHEE: FRAUEN FAHREN NICHT IM GELÄNDE
Cécile Schabana fährt selten auf der Strasse, sie steht mehr auf Natur. «Ich liebe Enduro fahren. Ich fühle mich auf dem Töff erst dann richtig zu Hause, wenn ich Natur unter den Rädern habe: Singletrails, Flussbette, umgeben von Wald, Hügeln, mitten in der freien Natur. Daher fahre ich am liebsten im Ausland, da dies in der Schweiz legal nicht wirklich möglich ist. Das Schönste für mich ist, wenn ich zu 100 Prozent fokussiert und ganz im Flow mit hohemTempo einen Hügel hochzirkeln oder grobschollige, steile Wege runterdüsen kann.» Die diplomierte Ingenieurin für Agrarwirtschaft berichtet über meist positive Erlebnisse mit männlichen Motorradfahrern: «Ich würde behaupten, die meisten sind positiv überrascht, wenn sie sehen, wie ich Enduro fahre und ihnen in nichts nachstehe.» Cécile fährt eine KTM 690 Enduro (2016) auf der Strasse und eine Sherco 300 SEF Factory Hard-Enduro (2020) im Gelände.
KLISCHEE: FRAUEN KÖNNEN KEINE SCHWEREN BIKES FAHREN
Bärbel Sauer fährt schon seit 1982 Motorrad. Seither hatte sie schon viele Motorräder. Zurzeit bewegt sie eine BMW 1250 GS mit 136 PS, die rund 250 kg auf die Waage bringt – ohne Gepäck.Vor Kurzem hat sie sich eineYamahaTénéré 700 als Zweitmotorrad in die Garage gestellt. Bärbel ist Pensionärin und kann jetzt fast täg- lich ihrer Lieblingsbeschäftigung frönen: der motorisierten Fortbewegung auf zwei Rädern. Sie war schon in vie- len Ländern mit dem Töff unterwegs – auch schon in der Wüste. Heute fährt sie am liebsten allein über die Schweizer Pässe und geniesst ihre Ruhe. Sie erinnert sich an frühere Zeiten: «Früher haben die Männer es zum Teil gar nicht akzeptiert, dass
Frauen auch Motorrad gefahren sind. Es gab Typen mit doofen Sprüchen, von wegen ‹Frauen können nicht Motorrad fahren, weil sie keine Eier ha- ben›. Das hat sich zum Glück geändert.» Heute erlebt sie es so, dass die Männer eher staunen, wenn sie den Helm abnimmt, und sie sehen, dass da eine Ü60-Frau vom Motorrad steigt. Bärbel kümmert sich selbst um die Montage von Spiegeln, Koffer, Fussrastern und anderen Teilen oder Zubehör. Trotz ihrer jahrzehntelangen Fahrpraxis trainiert sie regelmässig bei Lehrgängen weiter ihr Können, im Gelände und auf der Strasse.
KLISCHEE: FRAUEN INTERESSIEREN SICH NICHT FÜR TECHNIK
BSA ist eine ikonische britische Motorradmarke, Chopper gelten als amerikanisch. Das Motorrad von Jolanda Brugger vereint beides: Sie fährt eine BSA A10 Chopper, Jahrgang 1956. Den seltenen Klassiker hat sie selber umgebaut. Für sie ist das Motorrad in erster Linie ein Fortbewegungsmittel, um mit viel Spass von A nach B zu kommen. Vier- bis fünftausend Kilometer kommen bei ihr im Jahr zusammen. Jolanda fährt schon seit 35 Jahren Motorrad, am liebsten allein, wenn niemand unterwegs ist, auf «Sonntagsfahrer» verzichtet sie gerne. Schon als Kind begeisterte sie sich für eine Harley- Davidson. Diesen Traum erfüllte sie sich – die Vorurteile und dummen Sprüche von damals sind Tempi passati. Heute führt sie mit Männern «Benzingespräche».
EINES IST SICHER
Wenn Sie Motorrädern auf der Strasse begegnen, denken Sie an die kleinen Dinge, die einen grossen Unterschied machen: blinken, gross-zügig Abstand halten (nicht alle Motorradfahrer fahren gerne schnell), verzichten Sie darauf, nach der Kurve zu beschleunigen, kurz vor einem Motorrad ein- oder abzubiegen oder gar zu wenden. Und wenn Sie das Motorrad im Rückspiegel nervt, lassen Sie es doch einfach mal vorbei. Und dabei spielt das Geschlecht keine Rolle.
Gret bringt es auf den Punkt: «Jeder Sturz tut weh. Auch wenn es nur ein kleiner Unfall ist. Und mein Bremsweg ist ein bisschen länger als der eines Autos.»
Keine Frage, gemeinsam auf einem Motorrad zu fahren, ist schon eine tolle Sache. Ich vermisse die beste Sozia von allen gelegentlich schon. Aber wenn ich so wie jetzt meiner ehemals «besten Sozia» hinterherfahre, bin ich auch ein bisschen stolz – auf sie und auf mich. Denn was gibt es Besseres, als eine gemeinsame Leidenschaft zu teilen.
Text: Matthias Göbel Fotos: Suse Heinz
Art Director: Wernie Baumeler
(Text erschienen BONANZA // 02 // 2023)